Historiker über Corona und frühere Seuchen "Das sollten wir wohlstandsverwöhnten Zeitgenossen uns immer bewusst machen"

Ein Interview von Rafaela von Bredow

21.10.2021, 00.19 Uhr

Veranstaltungsstopps, Reiseverbote, Schulschließungen - wie die Deutschen sich schon vor Jahrhunderten erfolgreich gegen Pest und Cholera wehrten. Mitarbeiterinnen des American Red Cross Motor Corps in St. Louis (Missouri) 1918 während der Spanischen Grippe
Foto: Ann Ronan Picture Library / Photo12 / picture alliance

SPIEGEL: Herr Gutberlet, anders als im Mittelalter müssen wir Pandemien nicht mehr schicksalhaft wie einen Gottesfluch erdulden, wir können Erreger vergleichsweise wirksam bekämpfen. Was kann uns der Blick in die Geschichte überhaupt noch sagen?

Gutberlet: Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich sage, dass es sich eigentlich immer lohnt, in die Vergangenheit zu schauen. In diesem Fall allein schon, um zu sehen, wie die Menschen von Seuche zu Seuche die Herausforderung besser gemeistert haben. Und der medizinische Fortschritt ist ja ebenfalls ein historischer Prozess. Im 19. Jahrhundert war beispielsweise die deutsche Bakteriologie bahnbrechend und Robert Koch einer derjenigen, die die Medizin revolutioniert haben. Die großen Wissenschaftsnationen lieferten sich damals eine fröhliche Bakterienjagd. Und so wie uns heute die Darstellung des Coronavirus dauernd begegnet, so machte Koch mit der Mikrofotografie die Erreger der Seuchen erstmals sichtbar.

Zur Person

Foto: Agata Szymanska-Medina

Bernd Gutberlet, 54, arbeitet als Historiker und Autor in Berlin. Medizinhistorische Themen rund um Pest und Polio haben ihn schon vor der Coronakrise beschäftigt. Bei der Recherche zu Fragen der neuen Pandemie stieß er auf einen Mangel an Literatur zur Seuchengeschichte Deutschlands. Diese Lücke will er mit seinem neuen Buch "Heimsuchung" schließen.

SPIEGEL: Sie haben sich in Ihrem Buch auf Deutschlands Seuchengeschichte konzentriert*. Wie standen unsere Vorfahren Pest, Pocken, Cholera durch?

Gutberlet: Sie haben von Seuche zu Seuche dazugelernt, so wie wir jetzt. Wenn wir in näherer Zukunft wieder mit einer Pandemie konfrontiert werden, können wir auf die Erfahrung von Corona zurückgreifen. Als Mitte des 14. Jahrhunderts die Pest Deutschland heimsuchte, fehlte solche Erinnerung an frühere Seuchenzüge. Dann aber wurde die Infektionskrankheit zu einem ständigen Begleiter, zur Dauerbedrohung. Die Menschen ergaben sich aber nicht einfach in ihr Schicksal, sondern entwickelten Bekämpfungsstrategien. Bekanntestes Beispiel ist die Quarantäne, Ende des 14. Jahrhunderts in Dubrovnik erstmals angewandt.

SPIEGEL: An der nicht allzu großen Beliebtheit dieser Maßnahme hat sich seitdem aber nicht viel geändert, oder?

Gutberlet: Stimmt, aber so geht es uns doch auch mit anderen Maßnahmen aus den letzten Jahrhunderten, die heute immer noch angezeigt sind: Isolierung, Veranstaltungsverbote, Reiseverbote, Gesundheitszertifikate.

SPIEGEL: Als die Chinesen Wuhan Anfang 2020 dichtmachten, dachten wir noch, dass Lockdowns bei uns kaum durchsetzbar wären. Wir hätten nur in die Geschichtsbücher schauen müssen?

Gutberlet: Absolut. Selbst Schulschließungen gab es früher schon, in Deutschland zuletzt bei der Spanischen Grippe 1917/18. Und bei Pestausbrüchen wurde sogar desinfiziert, mit Essig. Natürlich war das alles nur begrenzt wirksam, da der Erreger und die genauen Ansteckungswege nicht bekannt waren. Aber auch das ist ja eine Parallele zu heute, wenn wir bedenken, dass die Infektiosität und die Übertragungswege von Corona nicht gleich in allen Details klar waren.

SPIEGEL: Waren die Maßnahmen ähnlich umstritten wie heute?

Gutberlet: In der Tat, Maßnahmen gegen Pest und Cholera wurden immer wieder unterlaufen. Reiche Leute ließen sich von Krankenlisten streichen und missachteten das Beerdigungsverbot, Arme gingen aus reiner Not weiter arbeiten, Städte verheimlichten aus wirtschaftlichen Gründen den Ausbruch der Seuche, Reisende fälschten Gesundheitspässe.

SPIEGEL: Als Durchbruch im Kampf gegen Seuchen erwies sich dann die vom englischen Landarzt Edward Jenner etablierte Impfung gegen den Pockenerreger. Doch selbst die war lange Zeit umstritten.

Gutberlet: Jenners Arbeit löste Anfang des 19. Jahrhunderts durchaus eine Impfeuphorie aus. Aber natürlich gab es zugleich viel Skepsis und große Ängste, schon weil damals tierische Substanz geimpft wurde. Man musste zunächst Standards entwickeln, um das neue Verfahren sicher zu gestalten. Das dauerte seine Zeit, weil sich mögliche Risiken erst einmal zeigen mussten. Es gab also mehr Grund zur Impfskepsis als heute.

SPIEGEL: Wurde damals schon über einen Impfzwang diskutiert?

Gutberlet: Oh ja, und zwar sehr kontrovers. Weil es Deutschland damals als Gesamtstaat noch nicht gab, wurde es föderal geregelt. Ein Flickenteppich, der uns auch wieder bekannt vorkommt. Manche Staaten beließen es bei Freiwilligkeit, andere griffen zur Impfpflicht. Alle Regierungen warben dafür, viele versuchten die Herdenimmunität zu erreichen, indem sie bestimmte Gruppen impften.

SPIEGEL: Wo entschied man sich für die Pflicht?

Gutberlet: Besonders hervorgetan hat sich da ein Zwergstaat, den man heute wohl nur noch im Schwäbischen kennt: Hohenlohe-Langenburg. Dort gab es einen Fürsten, der schon 1805 die Impfpflicht einführte. Das war nicht sonderlich schwierig, weil das Land so überschaubar war wie die Zahl seiner Impflinge. Die ersten größeren Staaten in Deutschland, die den Impfzwang verfügten, waren 1807 Bayern und Hessen-Darmstadt, während Preußen den indirekten Weg ging. Dort wurden bestimmte Bevölkerungsgruppen geimpft, etwa Soldaten und Waisenkinder.

SPIEGEL: Wie kam es zu der Impfpflicht gegen Pocken, die ja auch in Deutschland bis Anfang der Achtzigerjahre galt?

Gutberlet: Das Virus war nach dem Krieg 1870/71 von französischen Kriegsgefangenen ins Deutsche Reich eingeschleppt worden. Weil die Krankheit per Impfung so erfolgreich eingedämmt worden war, hatte die Impfdisziplin in der Zivilbevölkerung nachgelassen, und das Virus hatte leichtes Spiel. Rund 130.000 Menschen starben. Daher wurde 1874 der Impfzwang erlassen - übrigens der einzige deutschlandweit. Er galt, bis die Pocken dank des globalen Impfprogramms der WHO ausgerottet waren.

"Die Spanische Grippe war eine ›Katastrophe in der Katastrophe‹."

SPIEGEL: Die Coronakrise hat die Spanische Grippe von 1918 wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt - wieso war die Jahrhundertpandemie in Vergessenheit geraten?

Gutberlet: Es stimmt schon, selbst die Historiker widmeten ihr wenig Aufmerksamkeit. Was auch daran lag, dass die Spanische Grippe seinerzeit eine "Katastrophe in der Katastrophe" war. Damals, am Ende des Ersten Weltkriegs, ging in Europa eine ganze Epoche krachend unter. In Deutschland erreichte die Spanische Grippe ihren Höhepunkt in nur zwei Wochen Ende Oktober, Anfang November 1918, also während die Öffentlichkeit entgegen den Lügen jahrelanger Propaganda erkennen musste, dass der Krieg verloren war. Als Kaiser und Militär sich aus der Verantwortung verabschiedeten, als die Revolution das Kaiserreich beendete und sich das deutsche Heer auflöste. Und in diesem epochalen Tohuwabohu starben wohl über 300.000 Deutsche an der Spanischen Grippe. In sehr kurzer Zeit zwar, aber am Ende von vier Jahren des ohnehin großen Sterbens: nach über zwei Millionen Kriegstoten.

SPIEGEL: Wie bei Corona ist bis heute unklar, woher die Spanische Grippe eigentlich kam. War es, wie die Pocken, ein Virus, das von Soldaten verbreitet wurde?

Gutberlet: Das ist eine von drei Thesen, und dass sie besonders populär ist, verdankt sie einem US-Bestseller: Danach war es ein American virus, das US-Soldaten in Europa einschleppten. Gut möglich, aber vielleicht trat das Virus auch in Nordfrankreich erstmals auf - oder in China und wurde dann verbreitet von chinesischen Wanderarbeitern, die im Ersten Weltkrieg als Hilfskräfte eingesetzt wurden. Es ist wie heute: Ein neuer Erreger wird nicht da aktenkundig, wo er entsteht, sondern wo er zum ersten Mal sichtbar Wirkung zeigt. Jedenfalls war der Weltkrieg der Superspreader, vermutlich starben weltweit 50 bis 100 Millionen Menschen.

"Man wird ein bisschen demütig, wenn man das Thema über viele Jahrhunderte zurückverfolgt."

SPIEGEL: Was ist Ihre wichtigste Erkenntnis aus der Seuchengeschichte der vergangenen Jahrhunderte?

Gutberlet: Zwei Erkenntnisse sind es. Zum einen sehe ich die Fülle von Parallelen zu heute, seien es Vorsorgestrategien, Verschwörungstheorien oder Impfgegner. Zum anderen scheint immer der rote Faden des Fortschritts durch, nicht bloß des medizinischen. Wir schauen meist auf den Schrecken, den Seuchen mit sich bringen, das hat ja auch seine Berechtigung. Aber gleichzeitig haben die Menschen immer versucht, sich zu behaupten, selbst wenn niemand wusste, woher eine Krankheit kommt und wie sie übertragen wird. Gesellschaften entwickelten stets immer bessere Strategien und bekamen so etwas wie Übung im Umgang mit einer Krankheit. Und die Cholera brachte einen enormen Modernisierungsschub für die Großstädte, weil diese hygienisch so rückständig waren. Im Ganzen besehen ist Pandemiegeschichte durchaus eine Erfolgsgeschichte, und es tut gerade gut, zu sehen, wie unglaublich erfolgreich wir auch jetzt wieder sind - in diesem Fall mit dem Entwickeln neuartiger Impfstoffe.

SPIEGEL: Muss solcher Fortschrittsoptimismus nicht zynisch klingen, denken Sie nur an die Millionen von Aids-Opfern?

Gutberlet: Schauen Sie sich die historische Parallele zwischen der Pest, HIV und Corona an: Jedes Mal traf der jeweilige Erreger auf eine Gesellschaft in der Krise. Den Fortschritt, den die Aids-Krise auch in Deutschland anstieß, sehe ich unter anderem darin, dass nach anfänglichem Rückgriff auf veraltete moralisierende Muster eine gesellschaftspolitische Modernisierung in Gang kam. HIV erwies sich als eine Art Schrittmacher im Kampf der Schwulen und Lesben für Akzeptanz und Bürgerrechte. Und wie so oft: Das half den vielen Aids-Opfern nicht, aber die Nachgeborenen profitieren davon, nicht nur medizinisch, sondern gesellschaftlich. Und so könnte Corona bei uns zu einer umfassenden Digitalisierung führen, weil sich zeigte, dass die Gesundheitsbürokratie zu behäbig war im Kampf gegen die Pandemie.

SPIEGEL: Schauen Sie anders auf die Coronakrise als zu Beginn Ihrer Recherchen?

Gutberlet: Auf jeden Fall, die Aktualität des Themas schärft den Blick. Und dann wird man durchaus ein bisschen demütig, wenn man das Thema über viele Jahrhunderte zurückverfolgt. Denn bei allem Schrecken, den die Menschheit durch Corona erlebt: Wir sind so viel besser dran als unsere Vorfahren. So schnell wie seit dem letzten Jahr war die Forschung im Kampf gegen eine Pandemie noch nie. Das sollten wir spätmodernen, wohlstandsverwöhnten und ungeduldigen Zeitgenossen uns immer bewusst machen, wenn mal wieder was länger dauert als ein Handumdrehen.


Quelle: spiegel.de